Eine in Teilen nicht ganz ernste Betrachtung der Jahreslosung 2024
Kurz vor Redaktionsschluss erreichte mich die Bitte des zuständigen Kollegen einen Artikel für die nächste Ausgabe des Gemeindeblattes zu schreiben, da die ursprünglich dafür vorgesehene Verfasserin kurzfristig erkrankt ist. „Es kann ja etwas anderes sein, vielleicht zur Jahreslosung?“ Nach anfänglichen Bedenken wegen der Kürze der Zeit stimmte ich zu. Kann ja nicht so schwer sein, dachte ich mir. Denn mit den zentralen Wörtern „Liebe“ und „tun“ finden sich zwei Begriffe, die quasi zur DNA der christlichen Existenz gehören.
Bei Licht betrachtet stellte sich die Aufgabe als zäher dar, als im ersten spontanen Überschwang vermutet. Welche bahnbrechenden neuen Erkenntnisse sollte ich denn nun zum Thema „tätige Liebe“ noch ans Tageslicht befördern? Ist da nicht schon alles gesagt?
Nach mehreren gescheiterten Versuchen, sich dem Thema zu nähern, griff ich zum Äußersten: künstliche Intelligenz sollte es richten. Wenn auch nicht gleich ein vollständiger, fertiger Artikel dabei herausspringt, so doch vielleicht ein paar markante Wegpunkte, die ganz neue Denkräume eröffnen.
Also gab ich bei ChatGPT, der AI-Software (Artificial Intelligence) die mittlerweile wohl viele Schülerinnen und Schüler beim Schummeln auf der Schultoilette nutzen, die diesjährige Jahreslosung ein. Das Ergebnis war ernüchternd oder besser gesagt, völlig unbrauchbar.
Folgenden Satz spuckte ChatGPT aus: „Als AI-Assistent habe ich keine eigenen Gefühle oder die Fähigkeit, Liebe zu empfinden. Ich bin jedoch hier, um Ihnen bei Ihren Fragen und Anliegen zu helfen. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?“ Wer auch immer diese Software programmiert hat, muss seine dunklen Kellerräume noch nie im Leben verlassen haben. Bei aller Ernüchterung über das Ergebnis, stellte sich bei mir doch nach und nach eine gewisse Zufriedenheit ein. Denn in einer Welt der Algorithmen bleibt für unser Menschsein doch noch ein Raum, in dem wir die Deutungshoheit haben. Gut so!
Nun gilt es also selber nachzudenken und der Frage nachzugehen: Was will und kann uns der Apostel Paulus, der diese Zeilen in einem Brief an die Gemeinde in der damaligen griechischen Hafenstadt Korinth formuliert hat, eigentlich mit auf den Weg in dieses Jahr 2024 geben?
Wie oft bei biblischen Texten, hilft zunächst ganz klassisch - ohne Chat GPT - ein Blick auf den historischen und sozialen Zusammenhang. In der von Paulus um 50 n.Chr. gegründeten christlichen Gemeinde in Korinth geht es drunter und drüber. Unterschiedlichste Kulturen und Weltanschauungen prallen hier aufeinander. Das Hafenviertel ist verrufen. Die sozialen Gegensätze zwischen Armen und Reichen sind explosiv. Auch die Umgangsformen in der Gemeinde waren wohl nicht besonders tugendhaft. Es kam zu Spannungen und Konflikten, und manche Gemeindeglieder waren unsicher, was ihnen nach dem neuen Glauben erlaubt war und was nicht.
Einige Jahre nach der Gemeindegründung sah sich der Apostel deshalb veranlasst, seiner Gemeinde zwei Briefe zu schicken, um ihnen Orientierung zu geben. Seinen ersten Brief schließt Paulus mit Ermahnungen und Grüßen, und in diesem Schlussteil findet sich der Vers, der zur Jahreslosung für 2024 geworden ist: "Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe." (1. Kor 16,14)
Blicken wir nun etwas genauer auf dieses wunderbare Wort Liebe:
Der Assoziationshorizont im Deutschen bei diesem Wort hat ein sehr breites Spektrum. Bei aller Schönheit der deutschen Sprache verstellt diese uns manchmal aber auch Blickrichtungen bzw. stellt Begriffe in Beliebigkeitsräume. So verhält es sich wohl auch mit dem Wort Liebe. Das Spektrum reicht vom Rotlichtmilieu bis hin zu der tiefsten Gefühlsregung menschlicher Existenz.
Der Apostel Paulus, der seine Briefe in griechischer Sprache geschrieben hat, benutzt an dieser Stelle das Wort "Agape" (ἀγάπῃ), die uneigennützige, zwischenmenschliche Liebe – in Abgrenzung zu „Eros“, der erotischen Liebe, oder „Philia“, der freundschaftlichen Liebe. Die Quelle der Agape ist für Paulus letztlich Gott selbst. Wenn sie von Gott her – so die Überzeugung von Paulus - durch den Heiligen Geist in die menschlichen Herzen ausgegossen worden ist, so wird sie auch in den Menschen wirksam.
Paulus ist kein Traumtänzer und weiß, wie schwierig, aber auch wie wichtig es ist, die Mitmenschen mit der Brille dieser göttlichen Liebe zu betrachten. In seinem ersten Brief an die Gemeinde in Korinth in der es – wie erwähnt – teilweise hoch hergeht, entwickelt er deshalb eine ausgeprägte „Liebestheologie“.
Das sogenannte Hohelied der Liebe ist ein wunderbares Zeugnis dafür. Dort schreibt Paulus: "Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle. ..." (1. Korinther 13,1-13) "Paulus zählt ganz tolle Fähigkeiten auf, die ein Mensch haben könnte", analysiert der Theologe Wolfgang Baur. "Ich denke an Dinge, nach denen wir heute streben: Superdatenbanken, KI, die alles möglich macht, Kriege und Hungersnöte und Krankheiten eingrenzen... und dann sagt Paulus: Selbst wenn ich alle Fähigkeiten hätte, es wäre nichts ohne Liebe, es wäre völlig wertlos. Und er schließt mit einer Eigenschaft, die wie eine salvatorische Klausel klingt: Liebe lässt sich nicht beseitigen, sie hört einfach nicht auf!"
Agape als christliche Grundhaltung – da geht es neben dem persönlichen Glauben und dem Umgang miteinander innerhalb der Gemeinde, auch um kleine und große gesellschaftliche Themen, um vieles, was uns auch im Jahr 2024 beschäftigen und bedrängen wird und wo uns der gesellschaftliche Kitt verloren zu gehen droht. Wir sind immer wieder neu herausgefordert, die Menschen in den Blick zu nehmen, die Hilfe brauchen. Das ist eigentlich ein Inbegriff von Liebe.
An dieser Stelle sind die Kirchen, die christlichen Gemeinden und wir einzelne Christenmenschen aufgerufen, aufzustehen und zu sagen: Bei allem, was in unserem Zusammenleben und in unserem Miteinander passiert: Die Liebe muss eine Rolle spielen.
Michael Busch
Genesis 16,13
Die Jahreslosung ist der Ausspruch einer Frau. Hagar ist ihr Name. Eine Frau, die weit weg von ihrer Heimat als Sklavin lebt. Das Paar, dem sie dient ist schon alt und noch kinderlos. Über ihren Kopf hinweg wird entschieden, dass sie für die beiden ein Kind austragen soll, sie muss ihren Körper zur Verfügung stellen. Und als sich die Schwangerschaft dann einstellt, da heißt es: Hagar sah, dass sie schwanger war. Hagar sieht: Sie spürt und begreift etwas von dem Wunder, dass es bedeutet, wenn sich neues Leben mit dem eigenen verbindet.
Sehen heißt behutsam und ganzheitlich wahrnehmen.Sehen ist ein aktiver Vorgang. Wer einen anderen sieht, der lässt sich ein. Und Hagar lässt sich ein auf das Kind unter ihrem Herzen, auch wenn sie es sich nicht gewünscht hat. Durch das Sehen wird Hagar in ihrer Geschichte vom Objekt zum Subjekt. Sie wird stark und stolz.
Das nun passt ihrer eifersüchtigen Herrin gar nicht und sie demütigt Hagar, bis die in die Wüste flieht. Und der zukünftige Vater? Hält sich feige heraus, gibt die Sklavin, die sein Kind trägt, zu Gunsten seiner Ehefrau zum Abschuss frei. Mach mit ihr was du willst, sagt er. Sieht nicht hin sondern weg und bleibt Objekt in der Gesichte.
Aber Hagar folgt ein Engel Gottes als sie in die Wüste flieht. Bei einer Wasserquelle findet er sie. Er fragt: Wo kommst du her und wo willst du hin? Der Engel sieht Hagar, er lässt sich ein, er gibt ihr Raum, die Notlage aus ihrer Sicht zu schildern. Auf das Woher hat Hagar eine Antwort, aber auf das Wohin nicht: Schwanger in der Wüste stehen ihre Chancen schlecht eine geeignete Zuflucht zu finden. So ist es zwar wenig überraschend doch umso unbefriedigender, dass der Engel Hagar nur zur Umkehr raten kann. Für den Gang zurück in das Haus, in dem sie zwar versorgt, aber unfrei ist, rüstet er sie mit einer Verheißung: Einen unbeugsamen Sohn soll sie gebären, die sich so oft beugen musste. Und ihr Sohn soll Ismael (wörtlich: Gott hört) genannt werden, weil Gott ihr Elend gehört hat. Davon, dass Hagar dieses Kind für eine andere Frau austrägt, ist nicht mehr die Rede.
Hagar hat gesehen, dass sie schwanger ist und das hat sie unwiderruflich zur Mutter gemacht. Sie gibt dem Gott, der dort an der Wasserquelle in der Wüste durch den Engel mit ihr gesprochen hat, einen Namen: Gott, der mich sieht. Sie ist mit einer anderen Religion aufgewachsen, aber hier und jetzt setzt sie sich zu diesem einst fremden Gott ins Verhältnis. Gibt ihm einen Namen, macht ihn sich zu eigen und spricht ihn vertrauensvoll als Gegenüber an. Sie, die sich so oft beugen musste, in diesem Moment voller Würde.
Da hat einer, hat eine sie wahrgenommen und sich ihr zugewendet. Hagar ist Subjekt, weil sie sieht und angesehen wird.
Ein lupenreines Happy End enthält uns diese Dreiecksgeschichte realistischerweise vor, auch nach der Rückkehr wollen die Konflikte nicht enden und eines Tages kommt es sogar zu einer zweiten Flucht. Die große Befreiung bleibt aus. Die Geschichte von Hagar ist somit nicht die einer Erlösung, aber doch die einer Errettung: Da sieht eine Frau, wie ein kleines Wunder in ihr vorgeht, inmitten von Last und Mühsal. Da macht eine Frau die Erfahrung, dass sie gesehen wird. Dass es nicht egal ist, was aus ihr wird – auch wenn damit längst nicht alles gut wird. Es wird (er-)tragbar.
Auch wenn wir in diesem angebrochenen Jahr hoffentlich nicht in die Wüste fliehen müssen: Immer wieder begegnen uns Erfahrungen von Missachtung und Enttäuschung. Vielleicht wird uns etwas oder jemand genommen, an dem wir sehr hängen. Dazu zeigt der Blick in die Welt Bedrohliches.
Dazwischen wünsche ich Ihnen und Euch jemanden an der Wasserquelle, der zuhört und ansieht. Die heilsame Erfahrung wahrgenommen und verstanden zu werden. Ein echtes Gegenüber. Und zugleich Mut und Kapazität selbst hinzusehen.
Laura Wizisla
(Johannes 6,37)
Liebe Gemeinde,
ob Sie Gierhälse genauso wenig sympathisch finden wie ich, weiß ich nicht. Oder sind Sie selbst jemand, der gleich die ganz Hand nimmt, wenn man ihm den kleinen Finger reicht? Sie müssen das jetzt nicht offenbaren.
Aber Sie können in den nächsten zwei Leseminuten die Jahreslosung 2022 auf sich wirken lassen. Und am Ende stelle ich noch einmal die Frage und überlege wie Jesus zu Gierhälsen stand.
Die Jahreslosung steht fast am Ende folgender längeren biblischen Geschichte. Viele Leute waren von Jesus begeistert, hingen an seinen Lippen und liefen ihm überall hinterher. Obwohl die Menschen damals nicht dümmer waren als heute, hatten sie völlig vergessen, Pausenbrote mit sich zu nehmen – und Jesus predigte in einer Ecke des Landes, in dem es keine Läden oder so etwas wie antike Dönerbuden gab.
„Jesus, wir haben Hunger, hier gibt es keine Einkaufsmöglichkeiten und Proviantrucksäcke hat niemand dabei. Mach Du doch was, Jesus!“ Wenn ich Sie jetzt darauf aufmerksam mache, wie viele Menschen diese Bitte aussprachen, kommen Sie schnell auf die ganze Geschichte; es waren Fünftausend. Und Jesus machte diese Fünftausend unter Zuhilfenahme von fünf Gerstenbroten und zwei Fischen satt.
Die Speisung der Fünftausend war quasi der kleine Finger, den Jesus den Menschen gab, die sich für ihn interessierten. Als sie satt waren, sagten sie nicht etwa brav „DANKE!“, sondern benannten eine Sprechergruppe, die die ganze Hand ergreifen sollte. Sie sollten Jesus bitten, ihnen allen so eine Brotsorte zu geben, von der sie dauerhaft satt und nie wieder hungrig werden.
Jetzt könnte man den Gedankenschlenker machen, dass doch derartiges Brot die Worte aus dem Mund Jesu sind und die Aufmunterungen und der Trost – und diese Art von metaphorischem Brot haben wir ja immerzu.
Man kann auf diesen Schlenker auch verzichten und überlegen, ob Jesus nicht berechtigt gewesen wäre, die erwähnte Sprechergruppe „Gierhälse“ zu nennen und spießbürgerlich zu fragen, ob denn alle brav DANKE! gesagt hätten, bevor sie mit so einer fast unverschämten Monsterbitte nach einem „Himmelsbrot-Abo“ zu ihm kommen.
Hat er aber nicht, sondern mit den Satz geantwortet, der Jahreslosung 2022 geworden ist. Egal, ob man freundlich und galant oder forsch, raubeinig oder ungeschliffen zu Jesus kommt – keiner wird abgewiesen. Jesus erteilt selbst Gierhälsen keine Abfuhr. Er hat es versprochen; man darf sogar die ganze Hand nehmen. Viel Spaß beim Weiterdenken.
Ihr Stefan Kuhnert
Nachtrag:
Nichts gegen Charme und Höflichkeit; sie sind ein gutes Schmiermittel im Umgang unter uns Menschen und keinesfalls zu vernachlässigen. Aber selig macht Gott allein.
Liebe Gemeinde,
eine besänftigendes Wort in einer Zeit, in der viele sich aufgeraut fühlen, Menschen, ja Länder weltweit gleichsam einem großen Stresstest ausgesetzt sind. Das zurückliegende Jahr mit den beunruhigenden und traurigen Nachrichten über die Covid-19-Pandemie, mit den wirtschaftlichen und psychologischen Belastungen, die sie mit sich bringt, es war schwierig – und das kommende wird in vieler Hinsicht nicht einfacher. Jedenfalls, optimistisch gesagt, noch eine ganze Weile wird es so sein.
An dieser Stelle mal etwas Positives. Ich höre viele Berichte auch aus anderen Ländern. Deutschland ist ein großes, plurales Land. Die Entwicklung der Pandemie war und ist dramatisch. Dennoch möchte ich sagen, ich erlebe sehr viel Verständnis, Einfühlsamkeit, Rücksichtnahme, Mitdenken. Es gibt einige, die laut rebellieren, in den Medien sehr hörbar, aber im Grunde eine kleine Minderheit. Vieles lief und läuft aber in der öffentlichen Debatte besser, als die kritischen Stimmen es wahrhaben wollen. Und besser, nachdenklicher und verantwortungsbewusster als in manchen anderen Ländern. Dieser Vergleich ist freilich nicht wesentlich, es geht hier auch wieder nicht darum, sich einfach auf die Schulter zu klopfen und mit dem Finger auf die zu zeigen, die es nicht richtig machen. Meistens im Leben ist es eine gute Idee, sich erstmal auch an die eigene Nase zu fassen.
Was siehst Du den Splitter im Auge Deines Bruders – oder Deine Schwester… und siehst den Balken im eigenen Auge nicht. Auch das ein Grund, barmherzig zu sein. Die Fehler zu sehen, aber nicht in eine Haltung dauernder Kritik und Strafphantasien zu verfallen.
Die Auschwitzüberlebende und Psychologin Edith Eva Eger hat in ihren Büchern gar das Vergeben als heilsam für Menschen beschrieben, die wie sie schwerstes Leid erlebt haben. Weniger, weil die Taten, die sie erlitten hat, entschuldbar wären. Vielmehr, weil man so die Fixierung auf die Täter und die eigene Opferrolle hinter sich lässt.
Dass Gott barmherzig ist, ist die im jüdisch-christlichen Denken tief verankerte Sicht. Auch im Vater Unser beten wir ja so. Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. Hier ist es umgekehrt formuliert. Gott ist barmherzig. Der Vater ist barmherzig – die Mutter – wie auch immer wir Gott sehen und empfinden. Ein positives Bild von Elternschaft, von liebevoller, fürsorglicher Zuwendung. Uns das deutlich zu machen enthält einen tiefen Trost. Gott ist barmherzig, mit Dir, mit mir. Meine Selbstvorwürfe aber auch meine Wut auf andere, Menschen, die mich verletzt haben, die Politik, die nicht das Richtige tut, verantwortungslose Zeitgenossinnen… das frisst uns buchstäblich an. Entlastet, mit klarem Blick – Barmherzigkeit ist keine rosa Brille – können wir unter Anleitung dieses Bibelworts weitergehen. Wir werden in Stand gesetzt, heilsame Wege zu suchen, für uns, für andere, letztlich für das große Ganze.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen für das neue Jahr Gottes reichen Segen!
Ihr Roland Wicher
"Als ich jünger war, hatte ich Glauben", erzählt mir eine Frau bei einem Besuch. "Aber in meinem Leben sind so viele Dinge passiert, die mich zweifeln lassen." Früh starb die Mutter, der Vater war mit fünf kleinen Kindern überfordert. Sie wurde im Heim groß.
So ähnlich äußert sich ein Mann in der Mitte des Lebens, der unerwartet eine Krebsdiagnose bekommen hat: "Immer war ich gesund, und jetzt das …" ohnmächtig fühle er sich, dem Krebs und dem Krankenhaus ausgeliefert. Ist da ein Gott, der hilft? "Es fällt mir schwer, das zu glauben", sagt er.
Es gibt viele Gründe gegen den Glauben. Und solche und ähnliche Erfahrungen an der Grenze zwischen Trauer und Leid, zwischen Leben und Tod lassen Menschen zweifeln, ob da ein Gott ist, der helfen kann?
Die Jahreslosung "Ich glaube, hilf meinem Unglauben" scheint deshalb wie geschaffen für die Gemütslagen des Jahres 2020, in denen die Unheilsbotschaften von Klimawandel, Kriegsgetöse und politischer Einfalt wohl nicht abreißen werden.
Und anders als die Tageslosungen aus Herrnhut, die am nächsten Morgen bereits wieder verweht sind, spannt so eine Jahreslosung einen größeren Bogen und bringt mehr Nachhall mit sich, zumal, wenn sie so kurz daher kommt wie dieses Wort aus dem 9. Kapitel des Markusevangeliums.
Die Jahreslosung wirkt auf den ersten Blick wie so ein verzweifelter Stoßseufzer. Denn irgendwie glauben ja alle irgendwas. Auch wenn der Himmel für den modernen Menschen eher leer ist und die Kirchen als Anachronismus erscheinen, ist Spiritualität ja keine ausgestorbene Spezies: Meditations-Apps, Pilgerreisen, Yoga- Retreats, Kloster auf Zeit erfreuen sich großer Beliebtheit. Der Mensch möchte etwas glauben oder wenigstens still werden und tiefer atmen lernen. Ernsthaft natürlich, und doch auch mit einem Schulterzucken Glaubensfragen gegenüber. "Hilf meinem Unglauben". Der "Seufzer" hat etwas von einem Spiel mit der Paradoxie. Das war wohl auch der Grund für seine Jahreskrönung.
Ein Blick in das Markusevangelium bringt aber zu Tage, dass der Satz, der wie ein stiller Seufzer daherkommt, eine ganz andere Tonlage aufweist. Sie ist laut, aggressiv, verzweifelt. Wenn man den Vers im Zusammenhang liest, verliert er alle Blassheit.
Mit wenigen Worten zeichnet Markus eine dramatische Szene: Wir befinden uns mitten in einem Getümmel: Schriftgelehrte, die Jünger Jesu, eine Menschenmenge. Und im Zentrum steht ein Vater mit einem behinderten Kind, das von Geburt an unter Epilepsie leidet.
Der Vater bittet Jesu Jünger um Hilfe, doch die können nichts tun. Und dann, gerade während sein Kind einen epileptischen Anfall erleidet, steht der Mann vor Jesus und fleht ihn an: "Wenn du aber etwas kannst, so erbarme dich unser und hilf uns!" Doch anstatt dem Jungen augenblicklich zu helfen, beginnt Jesus eine Diskussion über den Glauben und provoziert damit den armen Mann noch mehr. Der Vater verliert die Selbstkontrolle, ihm reißt der Geduldsfaden. Er kann nur noch herausschreien, was ihn im Innersten zerreißt: "Ich glaube; hilf meinem Unglauben!"
Schließlich heilt Jesus den Jungen. Doch die Heilung wird beinahe zum Nebenaspekt, denn die Erzählung ist mehr als eine klassische Wundergeschichte. Es geht vor allem um den Begriff "glauben" und um das Gegensatzpaar "Glaube – Unglaube".
Die Lutherbibel und andere Bibelübersetzungen übersetzen den zentralen Satz der Geschichte mit "Ich glaube; hilf meinem Unglauben!" Eine sehr wörtliche Übersetzung, genauer geht es kaum.
Mit ein bisschen Übersetzungsfreiheit ließe sich der Satz vielleicht auch so übersetzen: "Ich vertraue dir ja – hilf mir doch, meinen Unglauben zu überwinden!" So rückt einem vielleicht der Sinn und auch die ganze Verzweiflung dieser Aussage ein Stück näher.
Was sich in der Jahreslosung wie ein stilles Gebet liest, hat eine ganz andere Temperatur. Es ist ein Schrei. Und die Worte, das verzweifelte Vertrauen, das aus diesem Schrei gepresst wird, sind nicht Ergebnis einer wohlgeformten theologischen Einsicht.
Dieser Glauben hat keine Alternative mehr. Er ist erlitten. Dieser Schrei wurzelt im ganzen bisherigen Leben dieses Vaters und seiner Liebe zu seinem kranken Kind. Er weigert sich, die Hoffnung zu verlieren und setzt sich so über gesellschaftliche Konventionen hinweg, scheut keine Peinlichkeit, lässt sich nicht abwimmeln. Die Enttäuschung soll nicht das letzte Wort haben!
"Ich glaube, hilf meinem Unglauben." – Das ist die Essenz seiner Persönlichkeit. Verzweifeltes Vertrauen. Daher kommt die Kraft.
Ja, Gründe gegen den Glauben gibt es viele. Aber Glauben geschieht gegen den Anschein der Vorherrschaft von Leid, Gewalt und Tod. Glaube ist eine Haltung des "Trotzdem". Eine Ausrichtung auf das, was sein könnte und sein sollte, und nicht auf das, was augenscheinlich ist.
Die Jahreslosung lädt uns also ein zu einem Jahr, in dem wir dem Zweifel Raum geben können. Und sie lädt uns ein, die Augen zu öffnen für unsere Welt und all die Gründe, die gegen den Glauben sprechen. Sehen wir auf die Veränderung unserer Erde, auf den Krieg, auf den Hunger. Sehen wir auf das Leid in unserer unmittelbaren Nähe und in unseren eigenen vier Wänden: auf das kranke Kind, auf die Mutter, die viel zu früh stirbt, auf das Dunkel in uns selbst, das sonst keiner kennt.
Sehen wir auf das, was wir tun können, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen, und schauen wir auf unsere Grenzen, wo nur die Verzweiflung bleibt! "Ich glaube, hilf meinem Unglauben!"
Pfarrer Michael Busch